Adrians Briefe von der Insel - Teil 3

Diese Kolumne erschien am 26.03.1998 in der sehr empfehlenswerten Zeitschrift "dran".
Die Verwendung dieses Textes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis.

Meine lieben deutschen Freunde

Kennen Sie Tunbridge Wells? Hierzulande ist dieses Städtchen ein Symbol für konservative Gesinnung, sowohl in allgemeiner als auch in politischer Hinsicht, und der Verfasser jener häufigen, wütenden Leserbriefe an die Times mit der Unterschrift "Ein Empörter aus Tunbridge Wells" ist schon eine sprichwörtliche Figur. Äußerlich ist es ein sehr hübsches Plätzchen, dessen schöne georgianische und viktorianische Gebäude sich in ein Tal am Fuß einer herrlichen Hügellandschaft schmiegen, in der es sich heute wohl noch genauso beschaulich spazierengehen läßt wie vor zweihundert Jahren.
Bevor Sie jetzt auf den Gedanken kommen, dieser Brief sei vom Fremdenverkehrsamt von Tunbridge Wells gesponsert, lassen Sie mich Ihnen noch etwas über diese bezaubernde Ansammlung zu groß geratener Puppenhäuser zwischen den Grafschaften Kent und Sussex sagen. Ich bin dort aufgewachsen. Auf diesen Umstand wird in den Werbebroschüren der Stadt nicht sehr ausführlich eingegangen; das heißt, es wird überhaupt nicht darauf eingegangen, doch für mich waren die achtzehn Jahre, die ich dort verbrachte, sehr bedeutsam. Während meiner ganzen Teenagerzeit streifte ich Stunde um Stunde und Tag um Tag rastlos durch die Straßen von Tunbridge Wells und suchte nach irgend etwas oder nichts oder irgend jemandem oder niemandem. Es war eine deprimierende Zeit, aber sie hatte auch eine Art fauliger Süße an sich, wie moderndes Laub. Ich war sehr erleichtert, als ich von dort fortging. Ich hatte schon angefangen zu denken, daß dieser elende Verfallsprozeß nicht umkehrbar sei und daß ich niemals von dort wegkommen würde.

Seit kurzem entdecke ich in mir das Bedürfnis, wieder einmal dort zu sein. Warum? Ich erkenne zwei Gründe dafür.
Erstens stehen wir unmittelbar vor einem Umzug. Seit sechzehn Jahren wohnen wir in einem alten viktorianischen Haus in East Sussex. Als wir einzogen, war Matthew, unser Ältester, neun Jahre alt, und Joe, der nächste, noch keine vier. Es ist das Haus, in dem unsere Kinder aufgewachsen sind, und es hat tiefen Kummer, große Freude und eine riesige Menge an ganz gewöhnlichem Alltag miterlebt. Das Haus hat viele Zimmer, aber nicht viel Platz, außer in der Küche, die wir sehr vermissen werden, da meine Frau und ich seit jeher leidenschaftliche Küchenbewohner sind. Das Haus, in das wir jetzt einziehen, ist größer und näher an der grünen Natur, und wir freuen uns auf die Veränderung. Bridget und ich hatten schon immer eine Neigung zum Nomadentum, und Umwälzungen machen uns beiden meist nichts aus.

Allerdings stelle ich fest, daß sich angesichts dieser bevorstehenden Veränderung in unserem Leben ein dunkles Loch in mir aufgetan hat. Es ist, als ob der Boden ganz leicht unter mir gezittert und mir Angst gemacht hätte, irgendein ungeahnter Abgrund könnte aufreißen und mich verschlingen. Hin und wieder tauchen dann Bilder von den Straßen in Tunbridge Wells vor meinem geistigen Auge auf, die ich so gut kannte, und ich will wieder dort sein, unglücklich, aber mit festem Boden unter den Füßen.
Der andere erkennbare Grund für diesen Wunsch, dorthin zurückzukehren, scheint mir der Tod meiner Mutter im Dezember des vorletzten Jahres zu sein, von dem ich in einem früheren Brief berichtet habe, wie sich einige Leser erinnern werden. Auf einer nicht leicht zugänglichen Ebene empfinde ich jetzt, da der Jahrestag ihres Todes näher rückt, meine Verwaisung als Erwachsener sehr tief, und der innere Drang, da zu sein, wo sie war, ist sehr stark.
Natürlich bin ich eingehüllt in die Schmusedecke meiner eigenen Familie, und deshalb werde ich wohl kaum in den nächsten Monaten endlos durch die Straßen von Tunbridge Wells streifen, doch dieses Erzittern des Bodens hat mich zum Nachdenken gebracht.

Was ist mein fester Boden unter den Füßen?
Irgendwo habe ich einmal geschrieben, daß die Auferstehung Jesu neu definiert, was fester Boden ist, und sobald man diese neue Definition einmal akzeptiert hat, hat jede andere Stütze außer der Hoffnung, eines Tages mit ihm zu leben, etwas Wackeliges an sich. Daran glaube ich immer noch von ganzem Herzen, aber mir ist auch bewußt, daß ich hin und wieder immer noch nervös auf Felsen springe, die fest aussehen, aber unweigerlich im Sand versinken, wenn ich mit meinem ganzen Gewicht auf ihnen lande. Beten wir für uns selbst und füreinander, während wir lernen, wie wir wahrhaft unsere Sicherheit in Jesus finden können.
Übrigens - lassen Sie sich nicht davon abhalten, Tunbridge Wells zu besuchen. Es ist eine schöne Stadt!

Herzlichst,
Ihr Adrian Plass

[Inselbrief vom 26.01.1998] [Inselbrief vom 26.02.1998] [Buchübersicht]

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Kampf der Welten: Heilige Kühe, blinde Flecken und verschwendete Schwachheit (bzw. im Original War of the Worlds - how to avoid leading a double life.) erschienen am 22.08.2012.