Buchcover Jetzt mal ehrlich ...

Leseprobe aus "Jetzt mal ehrlich ..." (2012)

"Seriously Funny 2"

Erst letzte Woche habe ich dafür ein anschauliches Beispiel bekommen, wieder einmal auf einer christlichen Konferenz, auf der ich gesprochen habe. Fühlst Du Dich auf solchen Veranstaltungen auch manchmal wie ein emotionaler und geistlicher Flüchtling, Adrian? Ich habe das Gefühl der Zusammengehörigkeit wirklich gern, aber manchmal kann ich mit dem Christentum, das auf diesen großen Zusammenkünften präsentiert wird, überhaupt nichts anfangen. Wohlgemerkt, ich halte große Festivitäten für wirklich wertvoll, und nicht nur deshalb, weil sie Leuten wie Dir und mir etwas zu tun verschaffen. Mir scheint, Gott hat schon immer dafür gesorgt, dass sein Volk reichlich zu feiern hatte: Feste, die dem Ziel dienen, uns daran zu erinnern, wer wir sind. Die Beschneidung vor der Erfindung der Anästhetika war übrigens auch so ein Teil des Programms zur Vorbeugung einer Identitätskrise, allerdings einer, auf di ich nicht so scharf gewesen wäre. Aber zurück zu diesem Gefühl, ein Flüchtling zu sein ...
Einer der Referenten meinte, man könne den Teufel vertreiben, indem man ihn einfach anschreie. Wow. Jetzt wissen wir endlich, wie sich das Problem des Bösen im Universum löst: Gebt einfach jedem Christen ein lautes Megafon, oder noch besser, eine ordentliche Verstärkeranlage. Damit schlagen wir dann die Mächte der Finsternis in die Flucht.
Es wurde der Eindruck erweckt, Christsein bedeute, dass das Leben eine endlose Heldengeschichte sei und unsere Dienstagvormittage angefüllt sein müssten mit Engelsbegegnungen und allen möglichen anderen feuerwerksähnlichen Erlebnissen. Mir stellten sich dabei die Nackenhaare auf, denn auch wenn ich mehr "Gottesmomente" erlebt habe, als mir zustehen, ändert das nichts daran, dass der größte Teil des Lebens - auch des christlichen - ohne besondere Vorkommnisse verläuft.
Als ich dann mit Predigen an der Reihe war, sagt ich einiges darüber , wie wirklicher Glaube aussieht, wobei es, wenn ich die Bibel richtig lese, vor allem um Ausdauer geht. Ich bin die endliches Klischees (oder "frommen Standardsprüche", wie Du sie, glaube, genannt hast) satt, die immer dann auftauchen, wenn der Krebs sein hässliches Haupt erhebet oder es so aussieht, als würde jemand bald sterben. Manche Leute flüchten sich dann in hartnäckige Verleugnung und behaupten steif und fest, die Krankheit müsse weichen, weil wir ja doch darum gebetet haben. Andere meinen, mit dem Leidenden liege irgendetwas im Argen ä er hätte, ohne es zu ahnend, dem finsteren Falken der Krankheit eine Landebahn bereitgestellt. Vielleicht war ja der Großvater des Krebskranken ein Freimauer. Na toll. Jetzt muss der Kranke also eine genealogische Website abonnieren und irgendeine seltsame Zeremonie vollziehen, um das Band zu seinem geschürzten Vorfahren zu lösen, oder ihn womöglich sogar ausgraben und ihm eine Ohrfeige verpassen.
Oder vielleicht beherbergt der Patient irgendeine verborgene Sünde, oder er hat nicht genügend Glauben. Wunderbar. Nun muss sich der Leidende nicht nur mit qualvollen Schmerzen herumschlagen, sondern auch noch mit dem Gedanken, Gott sei zornig auf ihn. Im Kielwasser dieses Wahnsinns werden der tödlichen Krankheit noch zwei weitere Tragödien hinzugefügt. Erstens verpassen Menschen die Gelegenheit, sich zu verabschieden. Denn das Eingeständnis, dass der Tod nahe ist, ist ja gleichbedeutend mit einem Scheitern und einem Mangel an Glauben. Also bereitet man sich nicht vor, und Worte der Liebe und Dankbarkeit bleiben ungesagt. Noch schlimmer ist, dass Christen manchmal mit einem erdrückenden Gefühl der Scham sterben. Ein Freund erzählte mir, sein liebenswerter, tief gläubiger Vater habe gezögert zuzugeben, dass es danach aussieht, als würde er bald sein Leben aushauen, "weil er das Gebestteam nicht enttäuschen wollte". Er lebte ein Einser-Leben des Glaubens und der Liebe, aber er starb mit dem Gefühl, eine Zwei minus ("könnte sich mehr Mühe geben") in seinem geistlichen Zeugnis stehen zu haben.
Ich ließ also während meiner Predigt meine Not über all das heraus - und geriet dabei ziemlich in Fahrt, so sehr, dass ich wohl beim Predigen ein wenig laut wurde, was ich bedauer. Ich mag keine brüllenden Prediger, besonder, wenn ich es selbst bin. Aber ich war erregt und zornig.
Am nächsten Morgen schlenderte ich in den großen Saal, wo sich die Leute versammelten, und fing ein Gespräch mit einer freundlich lächelnden Dame mit silbernem Haar an, die in einem Rollstuhl saß. Sie war schon seit einem Jahr in keinem Gottesdienst mehr gewesen, weil immer, wenn sie hereingerollt kommt, irgendein eifriger Christ ihr entweder genau sagt, warum sie an den Rollstuhl gefesselt ist, oder sie mit Nachdruck auffordert, aufzustehen und zu gehen, aber pronto, bitte sehr. Mit der Zeit hatte das bei ihr eine tiefe Depression ausgelöst, sodass sie sich nicht mehr blicken ließ. Am Abend zuvor hatte ich Menschen mit Behinderung m Verzeihung gebeten, da ich fürchtete, dass schon viele von ihnen den Glaubensexperimenten atemlos begeisterter, wohlmeinender Leute ausgesetzt waren, die sie mit ihren Sprüchen verletzt hatten. Und offenbar, Adrian, war das für diese wunderbare Frau eine ungeheure Erleichterung gewesen, als wäre eine schwere Bürde von ihr genommen worden. Sie hatte sich noch stundenlang bis spät in die Nacht mit ihrem Sohn unterhalten, und als sie an diesem Morgen einigen ihrer Freunde begegnete, sagten diese etwas sehr Merkwürdiges zu ihr. Offenbar war ihre Haut während des Vergangengen Jahres grau geworden. Die Depression hatte alles Rosa aus ihren Wangen vertrieben. Doch nun fiel ihnen auf, dass sich ihre Hautfarbe verändert hatte: Das Grau war gebannt.
Und das gab mir zu denken. Kann es sein, dass eine unrealistische Hypergläubigkeit den Menschen in Wirklichkeit das Leben und die Kraft raubt und sie in Schwarz-weiß-Imitationen der Technicolor-Persönlichkeiten verwanden, die sie eigentlich sein sollten? Deshalb halte ich unsere griesgrämigen Fragen für ungemein wichtig. Grau ist keine gute Haut- und Seelenfarbe.


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